Hinterwelt.net

22. June 2008
Anderswo

Bilder in für das Web ungewöhnlich hoher Auflösung: The Big Picture von Alan Taylor.

Even some of my favorite photo sites are often limited to “Photo of the Day” or “24 Hours in Pictures” features. That’s interesting, and you can find some mind-blowing images there, but I always felt like it lacked context, depth, story. When there is more to the story, it’s often just a link to a news story, not more photos. (zum Interview)

So und so ist es verwunderlich, dass bislang niemand auf diese Idee kam.

10. April 2008
Fiktion

Ein Gerät ist verschwunden, benutzt nicht mehr seine Steckdose sondern eine andere. Eine Steckdose, die fast fünf Jahre lang nicht benutzt wurde, gerätelos geblieben war. Sie lebt noch. Das beruhigt. Aber morgens, wenn die verschlafenen Augen die Uhrzeit suchen, ist das Gerät verschwunden. Das macht Unruhe. Nur kurz zwar, aber immerhin. Dann dreht sich der Schlafende, oder vielmehr: nicht mehr Schlafende auf die andere Seite, nicht um nochmal zu schlafen, einfach nur, um die Uhrzeit sehen zu können, die jetzt auf der anderen Seite des Betts steht. Weil es noch zu früh ist und es tatsächlich ein oder mehrere Vögel waren, die ihn geweckt haben, dreht er sich auf die andere Seite. Diesmal, um nochmal zu schlafen. Wenn dann der wieder Erwachende mit verschlafenen Augen die Uhrzeit sucht, ist sie verschwunden. Das macht Unruhe. Und, ja, auch diesmal nur kurz, aber immerhin schon zum zweiten Mal. Also dreht sich der nicht mehr Schlafende auf die andere Seite, weil er sich jetzt auch daran erinnert, dass die Uhrzeit auf der anderen Seite steht. Und während er sich auf die andere Seite dreht und sich überlegt, ob er nicht doch noch ein bisschen schlafen sollte oder auch nur könnte, da platzt ihm die Sonne samt Vogelgeplauder ins Gesicht. Und so bleibt er nach halber Drehung auf dem Rücken liegen, guckt in den Himmel und ist wach und bleibt das auch. Einfach so, ohne auf die Uhrzeit zu blicken.

Vier, fünf, vielleicht auch sechs Minuten später dreht er sich wieder auf die Seite, will dort nach der Uhrzeit sehen. Und lacht diesmal. Nicht laut. Aber ein Lachen ist es trotzdem. Und denkt: Alltag ändert sich, wenn er das im Kleinen tut.

16. January 2008
Fundstücke

Vereinfacht könnte man sagen, der Humanismus will das ideologische System ändern, ohne die Institution anzurühren; der Reformismus will die Institutionen ändern, ohne das ideologische System anzurühren. Revolutionäre Aktion bedeutet dagegen gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; und dazu muss sie die Machtverhältnisse angreifen, deren Werkzeug, Waffe und Panzer sie sind.

~ sagte er. Und ich frage mich in welchen Giftschränken er eigentlich schon steht?

Michel Foucault in: Jenseits von Gut und Böse. Dits et Ecrits II, Nr. 98, S. 283.

29. September 2007
Bild

jahreswechsel auf dem weg nach el escorial

26. September 2007
Fundstücke

smells like autumn
smells like memory ~ singen dictaphone. Draußen regnet es.

5. June 2007
Anderswo

Vor einem Jahr saß ich als einzelner, einsamer Mensch in der Pressevorführung des Films Tarnation. Mir hat der Film ausgesprochen gut gefallen, und weil über Filme, die nicht ins Kino kommen, keiner spricht, habe ich damals hier auf hinterwelt.net eine Kritik geschrieben.

Fan von Fernsehtipps bin ich ja eigentlich nicht, bei Tarnation möchte ich aber eine Ausnahme machen: Heute Abend, also am Dienstag, den 5.6.2007 um 22.25 Uhr kommt Tarnation auf 3sat.

24. May 2007
Angedacht

Letztens wurde ich gebeten einen Beitrag für eine Radiosendung zu dem Thema “Garten” zu machen. Es mag viel über Gärten zu erzählen geben, es mag viele Experten und irgendwie anders geeignete O-Tongeber geben. Wenn man aber weder in einer radiophonen Ausführung von “Schöner Garten” landen möchte, noch aufgeschwurbelt feuilletonistisch festlegen möchte, welche Bedeutung der Garten hat, dann bleibt nicht mehr viel übrig, dachte ich mir; — und dass ich zum Garten eigentlich nichts zu sagen habe. Heraus kam dieser Beitrag zum Garten. — Ausstellungsstück #2.

[audio:/wp-content/uploads/2007/05/garten.mp3]

Direkter Download der *.mp3

22. May 2007
Uncategorized

Wie die Funktionsweise und letztlich auch der Erfolg der Medien, die Medien zum Schweigen zwingt, wenn sie nicht zum Instrument werden wollen.
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18. May 2007
Politik

Über: Nicolas Sarkozy. Ein Film als Versuch, Sarkozy und seine polarisierende Wirkung zu erklären.

Hinweis: Da der Film leider nur auf Französisch existiert, ist dieser Eintrag wahrscheinlich nur für diejenigen interessant, die Französisch verstehen.

Vor kurzem staunte man über die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. 84% Wahlbeteiligung ist ein Wert, von dem Demokraten diesseits des Rheins träumen. Der Preis für diese hohe Wahlbeteiligung ist ein polarisiertes, vielleicht gar gespaltenes Land und derjenige der für die Polarisierung sorgt(e) ist eben dieser Sarkozy. Eineinhalb Jahre ist es her, dass man den Kopf über die “Unruhen” in den Vororten Frankreichs schüttelte. Man kann auch heute noch ganz trefflich darüber streiten, welche Rolle Nicolas Sarkozy dabei spielte, wie weit er Auslöser war? — und ob er Nutznießer war?
Frankreich, fremdes Urlaubsland
titelte ich vor eineinhalb Jahren:

Am Ende wird die französische Gesellschaft noch polarisierter sein, als sie es in den letzten Jahren (nicht unentscheidend durch Sarkozy) ohnehin schon ist. Er weiß die Mehrheit auf seiner Seite. Und je polarisierter die Gesellschaft ist, umso fester steht die Mehrheit bei ihm. Kurz: Natürlich wird Sarkozy nicht zurück treten, stattdessen wird er wenn alles vorbei ist noch zuversichtlicher zur Präsidentenwahl antreten.

Frankreich, fremdes Urlaubsland. Und wahrscheinlich wird diese Fremdheit in den nächsten Jahren nicht abnehmen. Hier, in Deutschland freut man sich über den Aufschwung und wenn überhaupt irgendwelche Gemüter erhitzt werden, dann wegen Christian Klar.
Frankreich dagegen ist polarisiert wie lange nicht mehr weiter »

Jürgen Habermas meldet sich in der Süddeutschen zu Wort und beklagt die gegenwärtige und vor allem zu erwartende zukünftige Qualität der freien Presse.

Freie Presse

Marius Meller vom Tagesspiegel schätzt Habermas, befürchtet aber, dass in seiner Philosophie und wohl vor allem seinem Artikel für die Süddeutsche »ein totalitärer Kern schlummert.«

Soweit habe ich das bei den Bissigen Liberalen gefunden und dort wird auch diskutiert, von welchen Seiten »die freie, qualitativ hochwertige Presse« bedroht ist.

Nun bin ich aber ein Freund von Perspektivwechseln. Und ich denke in diesem Fall macht es Sinn, das von Habermas ja wirklich nicht zuerst diagnostizierte Problem nicht aus der Sicht »von oben«, der Sicht, die die ganze Medienlandschaft auf einmal überblicken möchte, zu betrachten, sondern mal kurz zu der kleinsten Größe im Geschäft der Presse, der Nachricht und ihrer Entstehung zu wechseln.

Das von Habermas aufgegriffene Problem, vielleicht auch Phänomen (?) des Qualitätverfalls, beruft sich auf einige Allgemeinplätze, die zu einem naheliegenden Schluss führen:
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17. May 2007
Bild

Ausstellungsstueck Nr. 1 - Tisch

Abgeschnittene Köpfe von (Groß)Wild sind schon gewöhnungsbedürftig; die Köpfe behalten aber immerhin noch eine gewisse Würde, wenn sie hoch oben an der Wand thronen. Abgeschnittene Gliedmaßen als Tischbeine missbraucht sind nicht nur dieser letzten Würde beraubt, sondern erregen bei mir auch Ekel. Gefunden auf dem Theresienwiesenflohmarkt in München.

10. April 2007
Angedacht,Politik

Es liegt schon ein fast zwei Monate zurück, dass Bundespräsident Horst Köhler in Kronach (Oberfranken) unterwegs war. Wahrscheinlich liegt es an der Natur der Sache Natur der Medien, dass die Worte des Bundespräsidenten nur dann auf die Waagschale gelegt werden, wenn er sich auf großen Bühnen und Kontinenten bewegt. Dabei lehrt doch eine Wendung, dass die richtige Politik auf kommunaler Ebene gemacht werde. Und eine andere Wendung lehrt, dass der wahre Journalismus im Lokaljournalismus zu finden und auch zu erlernen sei. Hin zum Lokalen, so lautet das Diktum. Es sollte sich also lohnen die Worte zu hören, die das Staatsoberhaupt für die Bürger einer Gemeinde hat, die bekanntlich mit der Abwanderung der Jugend und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Fast einfühlsam klingt Köhler, als er in der Gemeinde Kronach spricht:

[audio:/wp-content/uploads/2007/04/koehler_kronach.mp3]

Es mag nur eine Feinheit sein … aber der Feinheit wegen legt man Worte auf die Waagschale:

Der Satz: “Seien sie optimistisch” ist ein Satz, der dem Pessimismus entspringt, und Köhler hat ihn vielleicht gerade deswegen vermieden. Er hätte sagen können: “Seinen sie nicht pessimistisch.” Das wäre ein Satz gewesen, bei dem man sich fragen könnte, weshalb es das überhaupt sagt … aber nein, Köhler sagt wirklich:

[audio:/wp-content/uploads/2007/04/koehler_kronach_kurz.mp3]

Es ist schön, den einfühlsamen Ton in Köhlers Stimme zu hören. Deshalb erscheinen mir seine Worte auf den ersten Blick als politische Seelsorge. Aber: Ist es Ironie, wenn der Bundespräsident, der von sich Reden macht(e), weil er die Deutschen für ihr Klagen, ihren Pessimismus geißelte, hier ausgerechnet zu einem Pessimismus, der aber nicht übermäßig sein soll, auffordert? Ist es Zynismus, wenn er das ausgerechnet vor den Bürgern einer Gemeinde tut, die nicht zu den Gewinnern der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre gehört?

18. March 2007
Angedacht

Es ist ein alter Hut, über die Skandalgeilheit der Medien zu lamentieren. Zu abgebrüht ist der Medienkonsument. Und während dem Bildleser die Skepsis über Jahre zur Natur geworden ist, weil er sich daran gewöhnt hat, nicht alles zu glauben, was dort steht, und der Griff in den Zeitungsständer schon längst neugierig und ungläubig zugleich geworden ist, — »Ui, wirklich, haben wir wirklich nur noch 13 Jahre?« — stehen auf der anderen Seite die Leser der Abonnentenzeitung und braven Konsumenten des Gebührenfernsehens mit schon gebildeter Meinung, denen ich (pauschal) ein weniger kritisches Verhältnis zu dem was sie da lesen, sehen oder hören, unterstelle. Und ich ertappe mich selbst dabei: Im Gegensatz zur Bild begreife ich die »seriösen« Medien nicht als Unterhaltung sondern als Information. Wenn ich über einen Krieg lese, glaube ich zu recht, dass er wirklich stattfindet, dass dort wirklich eine Bombe explodiert ist, dass sich die Außenminister wirklich getroffen haben. Kurz: Ich nehme die Welt über Medien wahr und bilde mir so über die Medien vermittelt ein Weltbild.

Wie oft passiert es aber, dass die »seriösen Medien« Wahrheiten verbreiten, die eben nicht wahr, vielleicht sogar erfunden sind. Erst vor drei Wochen lieferte Panorama Falschinformation vom Feinsten zu den »Killerspielen«. Letzte Woche trinkt sich ein Jugendlicher ins Koma und alle, wirklich alle springen auf den Zug auf: Die Jugendlichen trinken sich zu Tode, Flat-Rate-Trinken, der neue Trend und so weiter undsoweiter usw.

Während die einen über den Sinn oder Unsinn von Gesetzesänderungen diskutieren, sagt der Gesundheitsexperte Wolfgang Settertobulte im taz-Interview:

Nach den neuesten Daten hat der Alkoholkonsum unter Jugendlichen drastisch abgenommen. Gerade das regelmäßige Trinken, etwa in der Kneipe, wird seltener. […] Auch das Rauschtrinken hat nachgelassen, wenngleich nicht ganz so stark wie das regelmäßige.

Ist der ganze Schlagzeilenhype um den Alkoholkonsum der Jugendlichen in Deutschland also bloß eine Ente? Keine Ahnung, kann ich nur sagen. Aber ganz unwahrscheinlich ist es nicht, denn der Schritt von der Agenturmeldung »Jugendlicher hat sich ins Koma gesoffen« hin zu »Ich mach ein/e/n Feature/Reportage/Beitrag zum krassen Alkoholkonsum der Minderjährigen« ist in den Redaktionen klein, wenn das Muster vom aktuellen »Aufhänger« zum allgemeinen Thema als Grundkonzept der journalistischen Themenfindung gepredigt wird.

Hin zum Allgemeinen. Schritt zurück. Es ist gleich, ob nun so oder so. Wenn Herr Settertobulte aber recht hat, wenn sein Bild die Welt ein bisschen besser repräsentiert, dann stellt sich einmal mehr die Frage, was von dem Bild zu halten ist, das die Medien, die seriösen, vermitteln, tagtäglich, rund um die Uhr. — Wenn man die Welt als Gegenstand annimmt, der von den Medien abgebildet werden soll, gleich einer Photographie, dann sollte man im gleichen Atemzug sagen, dass auch das Kino abbildet, indem es photographiert. Im Kino ist sich jeder bewusst, dass Bildretusche, Bildmontage und Inszenierung das verändern, was wir sehen, indem es verändert, wie wir es sehen.

Diese Analogie ist nicht unproblematisch, aber vielleicht deshalb denkenswert, weil wir beim Film wahrscheinlich kritischer sind, als bei den Tagesthemen. Und eigentlich sollte es anders herum sein, oder?

nachtrag
zu den Grenzen der Analogie: Wenn wir einen Film Michael Moores sehen ist das vielleicht anders, aber das ist dann nochmal eine andere Geschichte.

17. March 2007
Angedacht,Politik

Und nach den ruhigen letzten Wochen war da plötzlich wieder das Jucken in den Fingern. Ein Lesen, das um jeden Preis versucht gegen den Strich zu lesen, das den Text überwörtlich nimmt und die Assoziationsreihen im Kopf in Gang setzt. Jetzt beginnt das, was man als Geistesübung einer sophistischen Tradition begreifen kann und Korinthenkackerei nennt. Der Zwang, vielleicht die Not, in den Gedankengang des unbekannten Gegenübers hinein zu grätschen, ihm ins Wort zu fallen, im Nachhinein, unentwegt und mit dem Wunsch am Ende nicht das Wort im Mund, sondern den Gedanken im Kopf verdreht zu haben. Unsympathisch solche Züge, aber manchmal eben auch reizvoll, wenn sie denn plötzlich da ist, die Diskussionswut über einen Kommentar zum Klima und der Rezeption seines Wandels, in brandeins, von Wolf Lotter, gefunden über die Bissigen-Liberalen.

Es macht (fast) immer was her, sich in die Tradition der Aufklärung zu stellen. Und wenn Wolf Lotter beim Klimaproblem den »Verlust des Denkvermögens« diagnostiziert, scheint es sich bei der Diskussion des Klimawandels um eine Antiaufklärung zu handeln, da die Maxime der Aufklärung nun mal das »Selbstdenken« ((vgl. I. Kant: »Was heißt: sich im Denken Orientieren?« S. 60. In: »Was ist Aufklärung?«, Hamburg: Meiner 1999.)) ist. Es macht immer was her, sich in eine Tradition zu stellen, sich große Fahnen an den Mast zu hängen und dann mit stolzgeschwelltem Bug über die Meere zu kreuzen. Nur ebenso verständlich ist’s hoffentlich auch, wenn ein eben solch aufgetakeltes Schiff am Horizont im Krähennest die Alarmglocke läuten lässt. Ja, hier hat jemand gedacht, wollte und hat auch radikal gedacht, nur Radikalität schützt vor Irrungen noch lange nicht. Herr Wolf, so möchte ich behaupten hat sich verirrt, nicht politisch und auch nicht moralisch, sondern rein argumentativ. Und da er mit Kant anscheinend nicht ganz unbekannt, stört’s ihn wohl hoffentlich auch nicht, wenn ich hier ein bisschen weiter aushole und seinen Gedankengang sezieren möchte.

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16. March 2007
Angedacht

Es gibt Dinge, bei denen man sich ziemlich sicher ist, dass sie nicht in youtube und auch sonst bislang nirgends im Netz zu finden sind. Ein kleiner lokaler Radiosender schickt um kurz nach sechs Uhr morgens ein Wort zum Tag, eine tägliche Andacht in den Äther.

Welche Höhenflüge die deutsche Seelsorge erreichen kann, ich konnte es nicht glauben …

[audio:/wp-content/uploads/2007/derPFARRER.mp3]

… gerade, weil es so unspektakulär ist.

1. March 2007
Angedacht

Hat irgendjemand gezählt, wie viele Artikel, Essays, Diskussionen, Interviews in den letzten Wochen und Monaten erschienen sind? Will das jemand zählen? Heute veröffentlichte Wolf Lepenies in der Welt einen Essay zur erneuten Standortbestimmung und Rechtfertigung der Geisteswissenschaften – in diesem Fall: an der Technischen Universität Berlin, wo die Abschaffung dieser Fächer aber bereits beschlossen ist ((In dem Papier Strukturelle Veränderungen in der Technischen Universität Berlin 1997/98 heißt es:
»Die Unabdingbarkeit geisteswissenschaftlicher […] Disziplinen für eine Technische Universität kann sich zum einen aus Synergieeffekten für die Entwicklung der Technikwissenschaften ergeben. […] Zum anderen kann sich diese Unabdingbarkeit aber auch herleiten aus der Bedeutung der Fächer für die Lehre […]«
Im Grunde sagt das bereits all’ das, was Herr Lepenies in seinem Essay schreibt. Vielleicht wäre es ja sinnvoll gewesen, zu Fragen, was sich in den knapp zehn Jahren an der Welt und dem Weltbild so sehr geändert hat, dass man die Fächer heute nicht mehr braucht.)) … vielleicht sollte es ein Nachruf werden. Stattdessen bietet er uns nur einen weiteren Aufruf an die Geisteswissenschaften, sich selbst »neu zu disziplinieren.«

Es mag an meiner eigenen, vielleicht versch(r)obenen Sicht liegen, dass ich dachte, diese Disziplinierung erfolge gewissermaßen von alleine, — auch ohne Apologien, die in großen deutschen Zeitungen veröffentlicht werden.

Es mag auch an dieser versch(r)obenen Sicht liegen, dass ich im Bekanntenkreis auf die Frage nach dem »Nutzen« bisher immer sehr kurz geantwortet habe: weiter »

28. February 2007
Uncategorized

Manchmal treffen Ereignisse auf eine Weise zusammen, die man ironisch nennen könnte: Während der Bundesgerichtshof im Fall Cicero zu Gunsten der Pressefreiheit entschied, wird im Netz über einen Beitrag der Magazinsendung Panorama diskutiert, dessen journalistische Qualität nur mit miserabel zu bezeichnen ist.

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8. February 2007
Film

Auf der diesjährigen Berlinale gibt es ein Spezial zum koreanischen Film. Im Herbst brachte Martin Scorsese mit „The Departed“ ein remake des HongKong-Klassikers Infernal Affairs in die Kinos, Wong Kar-Wai arbeitet an seiner ersten großen Hollywood-Produktion … der asiatische Film ist allgegenwärtig.
Und er ist anders.

[audio:/wp-content/uploads/2007/oasiafilm.mp3]

Vielen Dank an dieser Stelle an Nina Lobinger von RapidEyeMovies für das Interview.

6. February 2007
Fiktion

Der Bahnsteig ist voll im Berufsverkehr. Nur ein Kreis in der Mitte des Bahnsteigs ist leer. Zehn Meter vielleicht, der Radius des Kreises, in dessen Mitte ein Mann sitzt, mit einem Bein und einer Prothese. Ein Alurohr, vielleicht vier Zentimeter im Durchmesser, stützt seinen Oberschenkel, wenn er steht. Jetzt sitzt er auf der Bank mit einer Weinflasche in der linken Hand. Rotwein mit Drehverschluss, um das Klischee zu erfüllen. Die Menschen halten Abstand – auch, um nicht antworten zu müssen, auf den Vortrag des Mannes mit der Prothese und der Weinflasche in der Hand. Locken hat er, blonde Locken auf hoher Stirn. Dreißig ist er, vielleicht auch vierzig.

»Kennen Sie den Fuchspanzer? Nein? Na gut, es kann nicht jeder bei der Bundeswehr gewesen sein. Und ich kann es auch niemandem verdenken, bei all’ dem, was ich der Bundeswehr zu verdanken habe.«
Mit klaren Worten, deutlich, überdeutlich artikulierten Buchstaben redet er und hebt sein Bein, seinen Oberschenkel, an dem die Prothese hängt.

»Nicht jeder kann einen Bonker haben, nicht jeder sitzt unter drei Metern Stahlbeton in der Mitte Berlins. — Ja, ich kann doch auch nichts dafür, dass Deutschland keinen Flugzeugträger hat. — Aber Blausäure habe ich nicht und brauche ich nicht. Das hat sich geändert, bei der Bundeswehr. Ich will mich nicht umbringen.« — Und hebt sein Bein und trinkt aus der Flasche und nimmt sich eine Zigarette, die ihm von jemandem hingehalten wird. »Das ist goldig« sagt er zu dem Zigarettenspender.

»Sie waren nicht bei der Bundeswehr, sie haben verweigert, Zivildienst gemacht, ich weiß, da lernt man das mit den Zigaretten, zumindest wird man so erzogen. — Wenn ich der Führer wär’, ich wär’ keine Nazisau, aber so ‘nen Bonker, so drei Meter Stahlbeton, das wäre was.« Und hebt das Alurohr, vier Zentimeter vielleicht im Durchmesser, das seinen linken Oberschenkel stützt, wenn er steht, doch er sitzt, mit der Flasche Rotwein in der linken Hand, und dem Schraubverschluss.

»Sie wollen mir nicht zuhören, aber sie müssen.« Er lacht, blickt zur Anzeigetafel »zwei Minuten noch, dann kommt die U-Bahn. Zwei Minuten, in denen ich Ihnen erklären könnte, warum Deutschland keinen Flugzeugträger hat, oder warum Stahlbeton so gut ist und warum der Führer eine Nazisau war oder was der Fuchspanzer ist und was ich der Bundeswehr zu verdanken habe.« Er hebt die Flasche, prostet in Richtung Gleis, blickt sich um und sieht die U-Bahn kommen.
»Sie ist zu früh, sie können einsteigen und müssen nicht mehr hören, warum …« Die U-Bahn steht, öffnet die Türen, die Leute bewegen sich und seine Stimme geht im allgemeinen Gemurmel und Rascheln unter. Die Türen schließen sich, die U-Bahn fährt los und der Bahnsteig ist leer — auch im Berufsverkehr. Nur ein Mann sitzt noch dort, mit einer Weinflasche, mit Drehverschluss.

Die Leute haben den Bahnsteig verlassen, müssen keinen Abstand wie im Theater mehr halten. Wie im Theater fühlt sich der Zuschauer auf der Bühne nicht wohl. Der Berufsverkehr gab ihm eine Bühne. Jetzt sitzt er für ein paar Minuten alleine, dann werden sie sich wieder sammeln, wieder Abstand halten, so tun, als ob sie ihn nicht hörten und dabei auf jede Silbe lauschen. Vielleicht gibt es wieder jemandem, der ihm eine Zigarette gibt und wenn der Pendelnde des Berufsverkehrs zu Hause ist, dann wird er sich vielleicht daran erinnert haben, an den Bonker, die drei Meter Stahlbeton und die Blausäure und kurz ins Netz gucken, einen kurzen Film sehen, an den Bahnsteig denken, vielleicht sich fragen: War es Kabarett? Nein, das wäre zynisch … wobei doch der Mann mit der Flasche, der war zynisch, auf seiner Bühne, am U-Bahnsteig.

1. February 2007
Film

Über den Film »Nach der Hochzeit«

Warum entwickeln Filme Intensität? Manchmal ist es die geniale Montage, manchmal ein unglaubliches Drehbuch, dann wieder ein Regisseur, dessen Handschrift man noch in jedem Gesichtszug der Schauspieler zu finden glaubt. – Natürlich ist das Geheimnis eines guten, intensiven, in Erinnerung bleibenden Films meistens ein geglücktes Zusammenspiel, all‘ der Komponenten, die einen Film eben ausmachen. Doch manchmal, manchmal ist ein Film intensiv, weil dort, im Film, auf der Leinwand ein Charakter zu sehen ist, der sich in die Erinnerung einbrennt.

Jacob ist ein solcher Charakter. Der Film »Nach der Hochzeit« beginnt in Indien, zeigt Erwachsene, die versuchen Kinder in einem Armenviertel zumindest mit dem Notwendigesten zu versorgen.
Jacob, ein Mensch, mit einem Gesicht, das älter ist, als er selbst. Er ist alleine, scheint allen Menschen verschlossen, bis auf die Kinder, die er in einem Waisenhaus betreut.

Wie Jacob nach Indien gekommen ist, wissen wir nicht, wir kennen seine Vergangenheit nicht und er scheint sich auch nicht nach seiner Vergangenheit zu fragen, bis er …
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27. January 2007
Angedacht

Einer dieser Tage, die neben der Heizung mit dem Blick nach draußen beginnen. Wenn Øyes und Bøes Stimmen den Kaffee begleiten, wenn der Schnee in der Stadt ist und die harten Konturen unter dem weißen Mantel verschwinden, wenn der Wind die Flocken tanzen und die Menschen ihre Köpfe zwischen die Schultern ziehen lässt, dann erscheint sie mir friedlich, die Stadt. Momentaufnahme.

Manchmal erscheint die Stadt friedlich, das Leben einfach und die Welt unkompliziert. Augenblick ohne Zweifel; und fast zwangsläufig fällt der Gedanke wieder auf ein Sprüchlein, mit dem ich mich vor kurzem auseinandergesetzt habe: »So ist das Leben: Die Klugen sind stets voller Zweifel und die Dummen sind sich stets so sicher.«

Vielleicht ist dieser Moment dümmlich, vielleicht ist er trivial, vielleicht lasse ich mich vom Wetter hinreißen denke ich und denke doch gleichzeitig an meine damalige Antwort: »Der Zweifel macht das Denken, und die Gewissheit ist dem Denken wohlverdiente Pause.«

Nur, was ist schon gewiss in diesem Augenblick? Es ist nicht Gewissheit, sondern ein Blick, der das Interesse an den Details verloren hat, die Details nicht mehr sieht. So, wie die Stadt unter der Decke aus Schnee ihre Details verloren hat. Natürlich kann man graben, den Außenspiegel des Autos wieder freilegen. Nur, warum sollte man das im Moment tun, denke ich mir, sind doch ganz schön, die eingeschneiten Autos.

»Der Teufel steckt im Detail« sagt eine Redewendung und in freier Wendung könnte man zu dem Schluss kommen, dass eine Welt ohne Details vielleicht ohne Teufel wäre. Klar, dieser Gedanke ist Schwachsinn. Aber trotzdem frage ich mich, ob die Sehnsucht nach weißer Weihnacht so groß ist, weil wir sie nicht sehen wollen, die Details, an Weihnachten.

Friedlich ist die eingeschneite Welt; und doch ist es eigentlich nur das eine, das mir gerade fehlt: Die Not, die Spannung und ihre verwundbare Stelle zu suchen. Vielleicht müssen dazu erst wieder die Details in den Straßen sichtbar werden, wenn es Frühling wird, wenn die Schneedecke schmilzt, wenn die Natur wieder zum Leben erwacht. Ja, im Winter, da ist es ruhig, das Leben ruht und vielleicht ist der Moment gar nicht dümmlich, sondern nur eine Pause vom Leben, die das Leben lebenswert macht?

Pause …

… bis die Musik aus und die Kaffeetasse leer ist und die Details wieder sichtbar werden und der Gedanke wieder in den Zweifel und die Not des Geistes fällt:

»(…) wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiß? das Ziel… « ((F. Nietzsche: Vorwort zu: Jenseits von Gut und Böse.))

Anmerkung zu den Bildern
Die Bilder sind von Quasimodo und unterstehen einer Creative-Commons-Lizenz.

23. January 2007
Fundstücke,Politik

Aufklärung [darf] nicht bloß als ein die ganze Menschheit berührender allgemeiner Prozeß gesehen werden, sie darf nicht allein als eine den Individuen vorgeschriebene Verpflichtung gesehen werden: sie erscheint nun als politisches Problem.

Michel Foucault: Was ist Aufklärung.

Wir fahren siebzig, den Altstadtring entlang, zur Isar, unter den Straßenlaternen, die beleuchtete Kirche vor uns liegend. Er sitzt vorne, ist über sechzig, hat mich nur beim Einsteigen kurz angesehen und fährt jetzt, mit dem Blick auf der Straße und den Gedanken irgendwo auf der Innenseite. Wie ich. Wir, er und ich, in einem neuen Benz. Er fährt ihn wie einen alten. Langsam in der Beschleunigung, hoch in der Endgeschwindigkeit gleiten wir über die Straßen, ihre Schwellen, unter den Straßenlaternen und den Ampeln der Kreuzungen hindurch. Nachtfahrt. Im Regen an der Isar entlang. Die kühle Fensterscheibe auf der Stirn. Ich bin betrunken, ein bisschen und will nicht nach Hause. »Können wir nochmal um den Altstadtring fahren?« Er nickt und biegt rechts ab, zum Goetheplatz.

Ein schöner Abend. Ein sehr schöner sogar. Sie ist schön, vielleicht deswegen. Warum sollte er sonst schön gewesen sein? Bier. Dann haben wir gegessen. Dann wieder Bier. Sie wollte einen Joint rauchen, ich nicht und wir haben einen Joint geraucht. Sie wollte tanzen gehen, ich nicht und wir sind tanzen gegangen. Sie wollte in die Registratur, ich nicht, ja, wir sind registrieren gegangen. Zwei Taxifahrten, sieben Bier und drei Joints später bin ich wieder im Taxi, wieder unterwegs, jetzt ohne sie. Sie wollte nach Hause, ich nicht. Sie ist gegangen, ich bin geblieben, habe noch ein Bier getrunken und mich erst dann in ein Taxi gesetzt. Der Geldbeutel war voll, jetzt ist er leer. Ich bin voll und fühle mich leer. Wir haben ein jämmerliches Bild abgegeben. Wie zwei Verliebte standen wir, ich mit dem Rücken zur Wand, sie vor mir, ein bisschen zu nahe. So standen wir, sahen uns an, prosteten uns zu, lächelten und manchmal lachten wir auch. Nur gesagt haben wir nichts. Klar, die Musik war eh zu laut. Stille. So ist das, wenn man sich nichts zu sagen hat, obwohl man sich ein Jahr lang nicht gesehen hat. Ein Verlegenheitsbier nach dem anderen. Und noch eins. Ein Falsches. Immerhin haben wir zusammen gelacht. Auch ohne Grund. Nach außen macht das keinen Unterschied. Ob gute Unterhaltung oder peinliches Verlegenheitslachen sieht aus der Entfernung gleich aus. Also haben wir gelacht und uns gut dabei gefühlt. Sie ist schön, wenn sie lacht. Ich nicht. Ich kann ein Lachen nicht vortäuschen, sonst wäre ich Schauspieler geworden, wie sie.

Hätte ich ein Mobiltelefon, dann würde es jetzt blinken oder in meiner Hose vibrieren. Sie hätte geschrieben: »Gute Nacht & Schöne Träume.« So sitzt sie zu Hause und denkt sich vielleicht: »Was für ein Scheißabend« und geht schlafen.

Der Mann von vorne: »Wir sind jetzt da. Ich bin dann doch nicht mehr um den Altstadtring gefahren. Sie sind eingeschlafen. – Das macht dann zwölf siebzig.«
Jetzt ist der Geldbeutel leer, das Konto auch und es ist noch nichtmal Mitte des Monats.
»Noch eine gute Nacht Ihnen.«
»Danke, Ihnen auch und erholen sie sich gut.«
Ich bin also fertig, steige aus, klopfe nochmal kurz aufs Dach, wie das Soldaten bei Panzern tun und gehe zur Haustür. Es regnet immer noch, der nasse Handrücken will nicht in die Hosentasche, dann habe ich den Schlüssel doch in der Hand und öffne die Türe, stiefel die Treppe nach oben und öffne die Wohnungstüre, schließe sie, gehe drei Schritte geradeaus, dann links, ins Bad, öffne den Gürtel, die Hosenknöpfe, ziehe die Hose nach unten, setzte mich auf die Klobrille, lasse den Schwanz in die Schüssel baumeln und schlafe ein.

17. January 2007
Uncategorized

Dass ihr Betriebssystem zumindest im Vergleich zu Microsofts Windows gut ist, ist kein Geheimnis. (Auch wenn Jacob Appelbaum das von Apple angebotene Dateiverschlüsselungsverfahren treffender Weise als »File F(v)ault« bezeichnet.)

Dass Apples Rechner gut sind, ist auch kein Geheimnis. – Auch nicht, dass sie überteuert sind.

Dass der iPod zum Mainstream-Chic gehört, ist auch kein Geheimnis.

Nun, und dann ist da noch der iTunes-Store. Großes Angebot, und herrausragend schlechte Klangqualität der zum Download angebotenen Dateien. Klar, auf dem iPod hört man die schlechte Qualität eh nicht, aber als ich heute morgen auf der Suche nach einer verloren gegangenen Mail in meinem Spamordner auf die »iTunes der Woche« gestoßen bin, dachte ich nur: Nee, oder. Das ist jetzt einfach nicht wahr …

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16. January 2007
Film

Manchmal ändert sich mit der Perspektive die Welt. Natürlich, will man sagen, ändert sich »eigentlich« nicht die Welt. Was sich ändert, ist nur das, was man von dieser gleich bleibenden Welt sieht. – So weit scheint das offensichtlich, allgemein bekannt und wohl auch akzeptiert. ((Auf dem Blog Metalust & Subdiskurse ist in der Folge eines Eintrags zu Bild & Text eine Diskussion zu der Frage entstanden, ob man Bilanzen unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachten kann. Eine solche Betrachtung entspräche einem Perspektivwechsel. Ein Wechsel der Perspektive allerdings, bei dem nicht so klar ist, welchen Gewinn er bringen mag. Mit der Reihe »Perspektivwechsel« möchte ich versuchen einige Perspektivwechsel ein wenig zu erläutern, – auch um mir selbst ein etwas klareres Bild von den Grundlagen eines Perspektivwechsels im Fall von »Ästhetik & Bilanzen« zu schaffen.))

Was aber, wenn sich das, was wir von dieser Welt sehen und wie wir über die Welt denken durch den Wechsel einer Perspektive so weit verändert, dass wir vielleicht nicht mehr sicher sind, ob die Welt wirklich so ist, wie sie ist?

Ein schönes Beispiel für einen Perspektivwechsel ist in Alejandro González Iñárritus Film Babel zu sehen. In einem seiner vier Erzählstränge gibt der Film eine unterschwellige und treffende Kritik an der Verwendung des Begriffs »Terrorismus«.
Der Film zeigt nicht, dass der Terrorismus eigentlich so ist – oder vielleicht doch so. Stattdessen zeigt er einen sich aus dem Film scheinbar von ganz alleine ergebenden Perspektivwechsel, der die Sicherheit über den Begriff »Terrorismus« erschüttert.

Ein unglücklicher Zufall lässt den von zwei kleinen marokkanischen Jungen abgegebenen Gewehrschuss zum terroristischen Akt werden. Tatsächlich gleicht die Einordnung des Gewehrschusses als terroristischer Akt dem Versuch das Unerklärbare erklärbar zu machen. Drei Parteien und damit auch drei (fast) von einander unabhängige Perspektiven zeigt der Film:

Die erste Perspektive ist die der beiden Jungen, die in kindlichem Leichtsinn auf einen Reisebus schießen, um das neue Gewehr ihres Vaters zu testen, das angeblich auf 3000 Meter genau trifft.

Die zweite ist die der getroffenen Frau und ihres Ehemannes. Ihnen ist es gleich, wer es war und warum dieser Schuss abgegeben wurde. Ihr einziges Interesse liegt im Überleben der (fast) tödlichen Verletzung.

Die dritte Perspektive ist die der Weltpolitik. In einer Sichtweise, die alles als Wirkung sieht und daher konsequent nach Ursachen sucht, ist kein Platz für den Zufall und es ›muss‹ ein Erklärungsmuster für diesen Zwischenfall geben. Der Begriff des Terrorismus erlaubt eine Einordnung und damit eine Reaktion und Handlung.

»Versuche nie durch Konspiration zu erklären, was auf Chaos oder Inkompetenz zurückgeführt werden muss.« ((Josef Joffe im Tagesspiegel am 6. März 2006))

Der im Film durch die Montage hervorragend inszenierte Perspektivwechsel illustriert, wie die Suche nach ›Erklärung‹ begriffliche Konstruktionen über Ereignisse stülpt stülpen kann, um die Welt wieder begreifbar zu machen. Im Fall des Films ist der Begriff, der eine Erklärung möglich macht der »Terrorismus« und die Annahme einer (bösartigen) Motivation, wo doch die Ereignisse durch bloßen Zufall entstanden sind.

Der Perspektivwechsel, der im Film vollzogen und für den Zuschauer nachvollziehbar gemacht wird, geht weg von dem Bild der Wirklichkeit, das in den (Welt)Nachrichten präsentiert wird und geht hin zu den kleinen, für den Lauf der Welt (fast) unbedeutenden Ereignissen und zeigt auf diese Weise eine Welt des »Terrorismus«, in der kein Terrorismus ist.

Wie oft, so scheint der Film zu fragen, erklären wir Ereignisse, die nicht Wirkung einer Ursache sind? – Wie oft (v)erklären wir den Zufall zu einem geordneten Muster? Die Frage bleibt unbeantwortet; sie muss unbeantwortet bleiben und hinterlässt doch eine Verunsicherung, eine Unwägbarkeit in der Erklärung, die wir für die Welt haben.

post scriptum
Zugegeben: Beim Begriff des »Terrorismus« ist die Verunsicherung durch einen Perspektivwechsel einfach. Zum einen, weil »Terrorismus« ein inflationär gebrauchtes Wort ist. Zum anderen, weil es ein Begriff ist, der durch die Unschärfe seiner Definition ((siehe hierzu auch Das Parlament, Nr. 36, 2006)) wohl dazu verleitet, als Erklärungsmuster für sehr vieles missbraucht zu werden.
Was aber (für mich spannend) bleibt, ist der Beispielcharakter des in »Babel« vorgeführten Perspektivwechsels.

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