Jetzt scheint sie also wieder. Wintertag ohne Schnee mit Wind in der Straße und Sonne im Wohnzimmer, während ich meine Augen reibe, die Halswirbel strecke, eine Tasse Kaffee vor mir habe und gedanklich noch zwischen Traum und Tag Musik höre. Sonne. Ans Regal gelehnt steht das Rennrad, in der Sonne. Seine Geometrie drängt nach vorn; über den Lenker gebeugt sehe ich mich aus dem Sattel gehen, die letzten zwei Kehren des Anstiegs im Wiegetritt bezwingen. Oben dann, liegt vor mir das Tal des Hérault. Sonne des Südens im Gesicht; auf den Armen liegen dicke Adern. Der Puls beruhigt sich auf dem Weg hinunter ins Tal; der Fahrtwind trocknet den Schweiß auf der Haut: Auf der Abfahrt kommt der Körper zur Ruhe. Bergab konzentiert sich der Kopf, einziger Gedanke die Straße, ihr Verlauf, die nächste Bremsung. Das äußere Bein stemmt sich ins Pedal, die innere Hand belastet den Lenker, lässt die Bremse los. Das Rad legt sich in die Kurve und der Blick folgt dem Straßenverlauf, fällt auf die nächste Kehre, sieht unten im Tal die Brücke, den Fluss, seine Sandbank. Warme schwere Luft des Südens in Gedanken, während draußen Winter ist, ohne Schnee mit Wind in der Straße und der Sonne, die auf das Rennrad scheint. Es steht gelehnt am Bücherregal und wartet auf den nächsten Anstieg, die nächste Abfahrt, mit Sehnsucht aber auf die Sonne des Südens.
Eine Überraschung im Archiv. Als er abends Lücken der Sammlung schließen wollte, stieß er auf acht noch nicht archivierte Kurznachrichten des Sommers. Sieben hat er geschrieben, ohne Antwort. Die eine Antwort, die nach drei Wochen kommt, spuckt ihm ins Gesicht. Er sitzt im Nachtbus von Helsinki nach Juva ABC. Es ist dunkel. Der Bus schläft. Keiner sieht sein Gesicht. Keiner sieht, wie er sich die Gehörgänge mit Musik verstöpselt. Keiner hört wie er die Mittelstreifen im Licht der Frontscheinwerfer des Busses zählt. Die Straße ist lang, ohne Gegenverkehr. Gleichbleibender optischer Eindruck. Der Bus rollt schneller über die Streifen. Er zählt schneller. Es bleibt Ordnung. Ordnung bleibt während die Fahrbahnen durch einen durchgezogenen Mittelstrich getrennt werden: Er zählt die Schläge der Musik. Als das Lied aufhört, zählt er Augenblicke. Bis die Mittelstreifen wieder im Licht der Frontscheinwerfer unter dem Bus verschwinden. Um vier dämmert der Tag über Finnland. Es zählt, er zählt, kämpft gegen Schlaf, zählt, zählt die Augenblicke, verliert sich im Zählen und sieht sich neben ihr. Sie neben ihm, während er zählt.
Um halb fünf sieht er den Wald neben der Straße, jetzt Bäume in der Weite Finnlands, die Straße gerade bis zum Horizont, nach Osten, über dem die Sonne dämmert, sich der Tag erhebt. Mittelstreifen um Mittelstreifen vergeht die Ordnung. Sie bleibt. Neben ihm schläft der Bus. Auch als er um fünf dem Bus in den dämmernden Tag entsteigt, den Busfahrer nochmals Winken sieht, auf einem Parkplatz mitten in Finnland steht und nichts mehr hat, das sich rhythmisch bewegt.
Leeres Blatt Papier am Tag der Frühling beginnt und Abend endet. Freude am Richtigen in falschen Sätzen, sind der Tag, für sich ohne Wort.
Vier fremde Schritte ins neue Jahr. Die Hoffnung in Sätzen, während die Teufel des alten vertrieben werden vom Baumarktgeschmack der leuchtenden Hamsterrülpser hoch oben im Himmel. Eine Rakete, ein Wunsch, so die Regel. Ein Böller, eine Sünde. Ein Sektkorken, eine Vergebung im anrauschenden Jahr, an dessen Zauber so recht niemand glaubt, als die fade Erinnerung an »Brot statt Böller« am vorderen Hirnlappen kratzt und ein »Amen« im Nachklang den Weg zur Erinnerung findet. Jährlich holt es mich wieder. Jährlich falle ich kurz aus meinem Muster, bin zwei Minuten abwesend wie Thomas im Ketamin-Loch. Mit dem nächsten Böller, der nächsten rauchenden Mülltonne bin ich wieder da und gehe meine vier fremden Schritte ins neue Jahr.
Der Kopf dreht sich, das Bett schwitzt, die Hoffnung in Sätzen, während das Fenster beschlägt. An Tagen, die Weihnacht die Hand reichen im fiebrigen Halbschlaf der Verbalisierung. Leerstelle. In weiß. Am Ende des Monats, der schneller lief, als der Kalender sagt. Am Ende des Monats reduziert sich Welt auf den Wohnraumwürfel des Schlafzimmers. Alltag auf den Wechsel durchschwitzter Bettwäsche reduziert dreht sich im Fiebertraum der Gedanke im Kreis. Der Rest ist Schlaf.
Es wird wieder Winter. Winter war es, als der Nachmittag im Café zu Bier am Abend wurde. Wie die Jahre zuvor gab der Abend dem Abschied mit meinem Versprechen die Hand, sich zu melden, bald. Bald wurde zu einem Jahr. Wie die Jahre zuvor. In die Jahre gekommen sind die Versprechen. In die Jahre kommen wir. Bis zu den Tagen, die wir dem Jubiläumsglauben verdanken. Bis zu den Tagen, die irgendwie groß sein müssen; die Bedeutung haben müssen, weil sie doch groß sind. Und so erzählt man seine Geschichte wie jeden Tag neu. Stets als Legitimation des eigenen Tuns und Lebens — nicht nur vor den anderen: auch sich selbst die Sicherheit zu geben, die Zeit sinnvoll zu verleben. Narration des Selbst als Technik der Selbstpositionierung, die den anderen und einem selbst Orientierung und wohl auch Bewertung ermöglicht. Die Rahmenerzählung steht indes schon geschrieben, bevor wir überhaupt in die Zeit kommen, unsere Geschichte am großen Tag zu erzählen. (Weil er doch groß ist, muss er eine besondere Bedeutung haben.) Die Legitimation der verlebten Zeit findet sich nur vor den Erwartungen der anderen, der allgemeinen Erwartung, was man in 10958 Tagen im Normfall so alles getan hat.
Ein Gerät ist verschwunden, benutzt nicht mehr seine Steckdose sondern eine andere. Eine Steckdose, die fast fünf Jahre lang nicht benutzt wurde, gerätelos geblieben war. Sie lebt noch. Das beruhigt. Aber morgens, wenn die verschlafenen Augen die Uhrzeit suchen, ist das Gerät verschwunden. Das macht Unruhe. Nur kurz zwar, aber immerhin. Dann dreht sich der Schlafende, oder vielmehr: nicht mehr Schlafende auf die andere Seite, nicht um nochmal zu schlafen, einfach nur, um die Uhrzeit sehen zu können, die jetzt auf der anderen Seite des Betts steht. Weil es noch zu früh ist und es tatsächlich ein oder mehrere Vögel waren, die ihn geweckt haben, dreht er sich auf die andere Seite. Diesmal, um nochmal zu schlafen. Wenn dann der wieder Erwachende mit verschlafenen Augen die Uhrzeit sucht, ist sie verschwunden. Das macht Unruhe. Und, ja, auch diesmal nur kurz, aber immerhin schon zum zweiten Mal. Also dreht sich der nicht mehr Schlafende auf die andere Seite, weil er sich jetzt auch daran erinnert, dass die Uhrzeit auf der anderen Seite steht. Und während er sich auf die andere Seite dreht und sich überlegt, ob er nicht doch noch ein bisschen schlafen sollte oder auch nur könnte, da platzt ihm die Sonne samt Vogelgeplauder ins Gesicht. Und so bleibt er nach halber Drehung auf dem Rücken liegen, guckt in den Himmel und ist wach und bleibt das auch. Einfach so, ohne auf die Uhrzeit zu blicken.
Vier, fünf, vielleicht auch sechs Minuten später dreht er sich wieder auf die Seite, will dort nach der Uhrzeit sehen. Und lacht diesmal. Nicht laut. Aber ein Lachen ist es trotzdem. Und denkt: Alltag ändert sich, wenn er das im Kleinen tut.
Der Bahnsteig ist voll im Berufsverkehr. Nur ein Kreis in der Mitte des Bahnsteigs ist leer. Zehn Meter vielleicht, der Radius des Kreises, in dessen Mitte ein Mann sitzt, mit einem Bein und einer Prothese. Ein Alurohr, vielleicht vier Zentimeter im Durchmesser, stützt seinen Oberschenkel, wenn er steht. Jetzt sitzt er auf der Bank mit einer Weinflasche in der linken Hand. Rotwein mit Drehverschluss, um das Klischee zu erfüllen. Die Menschen halten Abstand – auch, um nicht antworten zu müssen, auf den Vortrag des Mannes mit der Prothese und der Weinflasche in der Hand. Locken hat er, blonde Locken auf hoher Stirn. Dreißig ist er, vielleicht auch vierzig.
»Kennen Sie den Fuchspanzer? Nein? Na gut, es kann nicht jeder bei der Bundeswehr gewesen sein. Und ich kann es auch niemandem verdenken, bei all’ dem, was ich der Bundeswehr zu verdanken habe.«
Mit klaren Worten, deutlich, überdeutlich artikulierten Buchstaben redet er und hebt sein Bein, seinen Oberschenkel, an dem die Prothese hängt.
»Nicht jeder kann einen Bonker haben, nicht jeder sitzt unter drei Metern Stahlbeton in der Mitte Berlins. — Ja, ich kann doch auch nichts dafür, dass Deutschland keinen Flugzeugträger hat. — Aber Blausäure habe ich nicht und brauche ich nicht. Das hat sich geändert, bei der Bundeswehr. Ich will mich nicht umbringen.« — Und hebt sein Bein und trinkt aus der Flasche und nimmt sich eine Zigarette, die ihm von jemandem hingehalten wird. »Das ist goldig« sagt er zu dem Zigarettenspender.
»Sie waren nicht bei der Bundeswehr, sie haben verweigert, Zivildienst gemacht, ich weiß, da lernt man das mit den Zigaretten, zumindest wird man so erzogen. — Wenn ich der Führer wär’, ich wär’ keine Nazisau, aber so ‘nen Bonker, so drei Meter Stahlbeton, das wäre was.« Und hebt das Alurohr, vier Zentimeter vielleicht im Durchmesser, das seinen linken Oberschenkel stützt, wenn er steht, doch er sitzt, mit der Flasche Rotwein in der linken Hand, und dem Schraubverschluss.
»Sie wollen mir nicht zuhören, aber sie müssen.« Er lacht, blickt zur Anzeigetafel »zwei Minuten noch, dann kommt die U-Bahn. Zwei Minuten, in denen ich Ihnen erklären könnte, warum Deutschland keinen Flugzeugträger hat, oder warum Stahlbeton so gut ist und warum der Führer eine Nazisau war oder was der Fuchspanzer ist und was ich der Bundeswehr zu verdanken habe.« Er hebt die Flasche, prostet in Richtung Gleis, blickt sich um und sieht die U-Bahn kommen.
»Sie ist zu früh, sie können einsteigen und müssen nicht mehr hören, warum …« Die U-Bahn steht, öffnet die Türen, die Leute bewegen sich und seine Stimme geht im allgemeinen Gemurmel und Rascheln unter. Die Türen schließen sich, die U-Bahn fährt los und der Bahnsteig ist leer — auch im Berufsverkehr. Nur ein Mann sitzt noch dort, mit einer Weinflasche, mit Drehverschluss.
Die Leute haben den Bahnsteig verlassen, müssen keinen Abstand wie im Theater mehr halten. Wie im Theater fühlt sich der Zuschauer auf der Bühne nicht wohl. Der Berufsverkehr gab ihm eine Bühne. Jetzt sitzt er für ein paar Minuten alleine, dann werden sie sich wieder sammeln, wieder Abstand halten, so tun, als ob sie ihn nicht hörten und dabei auf jede Silbe lauschen. Vielleicht gibt es wieder jemandem, der ihm eine Zigarette gibt und wenn der Pendelnde des Berufsverkehrs zu Hause ist, dann wird er sich vielleicht daran erinnert haben, an den Bonker, die drei Meter Stahlbeton und die Blausäure und kurz ins Netz gucken, einen kurzen Film sehen, an den Bahnsteig denken, vielleicht sich fragen: War es Kabarett? Nein, das wäre zynisch … wobei doch der Mann mit der Flasche, der war zynisch, auf seiner Bühne, am U-Bahnsteig.
Wir fahren siebzig, den Altstadtring entlang, zur Isar, unter den Straßenlaternen, die beleuchtete Kirche vor uns liegend. Er sitzt vorne, ist über sechzig, hat mich nur beim Einsteigen kurz angesehen und fährt jetzt, mit dem Blick auf der Straße und den Gedanken irgendwo auf der Innenseite. Wie ich. Wir, er und ich, in einem neuen Benz. Er fährt ihn wie einen alten. Langsam in der Beschleunigung, hoch in der Endgeschwindigkeit gleiten wir über die Straßen, ihre Schwellen, unter den Straßenlaternen und den Ampeln der Kreuzungen hindurch. Nachtfahrt. Im Regen an der Isar entlang. Die kühle Fensterscheibe auf der Stirn. Ich bin betrunken, ein bisschen und will nicht nach Hause. »Können wir nochmal um den Altstadtring fahren?« Er nickt und biegt rechts ab, zum Goetheplatz.
Ein schöner Abend. Ein sehr schöner sogar. Sie ist schön, vielleicht deswegen. Warum sollte er sonst schön gewesen sein? Bier. Dann haben wir gegessen. Dann wieder Bier. Sie wollte einen Joint rauchen, ich nicht und wir haben einen Joint geraucht. Sie wollte tanzen gehen, ich nicht und wir sind tanzen gegangen. Sie wollte in die Registratur, ich nicht, ja, wir sind registrieren gegangen. Zwei Taxifahrten, sieben Bier und drei Joints später bin ich wieder im Taxi, wieder unterwegs, jetzt ohne sie. Sie wollte nach Hause, ich nicht. Sie ist gegangen, ich bin geblieben, habe noch ein Bier getrunken und mich erst dann in ein Taxi gesetzt. Der Geldbeutel war voll, jetzt ist er leer. Ich bin voll und fühle mich leer. Wir haben ein jämmerliches Bild abgegeben. Wie zwei Verliebte standen wir, ich mit dem Rücken zur Wand, sie vor mir, ein bisschen zu nahe. So standen wir, sahen uns an, prosteten uns zu, lächelten und manchmal lachten wir auch. Nur gesagt haben wir nichts. Klar, die Musik war eh zu laut. Stille. So ist das, wenn man sich nichts zu sagen hat, obwohl man sich ein Jahr lang nicht gesehen hat. Ein Verlegenheitsbier nach dem anderen. Und noch eins. Ein Falsches. Immerhin haben wir zusammen gelacht. Auch ohne Grund. Nach außen macht das keinen Unterschied. Ob gute Unterhaltung oder peinliches Verlegenheitslachen sieht aus der Entfernung gleich aus. Also haben wir gelacht und uns gut dabei gefühlt. Sie ist schön, wenn sie lacht. Ich nicht. Ich kann ein Lachen nicht vortäuschen, sonst wäre ich Schauspieler geworden, wie sie.
Hätte ich ein Mobiltelefon, dann würde es jetzt blinken oder in meiner Hose vibrieren. Sie hätte geschrieben: »Gute Nacht & Schöne Träume.« So sitzt sie zu Hause und denkt sich vielleicht: »Was für ein Scheißabend« und geht schlafen.
Der Mann von vorne: »Wir sind jetzt da. Ich bin dann doch nicht mehr um den Altstadtring gefahren. Sie sind eingeschlafen. – Das macht dann zwölf siebzig.«
Jetzt ist der Geldbeutel leer, das Konto auch und es ist noch nichtmal Mitte des Monats.
»Noch eine gute Nacht Ihnen.«
»Danke, Ihnen auch und erholen sie sich gut.«
Ich bin also fertig, steige aus, klopfe nochmal kurz aufs Dach, wie das Soldaten bei Panzern tun und gehe zur Haustür. Es regnet immer noch, der nasse Handrücken will nicht in die Hosentasche, dann habe ich den Schlüssel doch in der Hand und öffne die Türe, stiefel die Treppe nach oben und öffne die Wohnungstüre, schließe sie, gehe drei Schritte geradeaus, dann links, ins Bad, öffne den Gürtel, die Hosenknöpfe, ziehe die Hose nach unten, setzte mich auf die Klobrille, lasse den Schwanz in die Schüssel baumeln und schlafe ein.