Vorgestern hatte ich in Second Life ein faszinierendes und gleichzeitig verstörendes Erlebnis: Ich habe zum ersten Mal in einem virtuellen Club als DJ aufgelegt. – Ein paar Gedanken über die Grenzverschiebungen zwischen »Echt« und »Unecht«, von denen ich nicht weiß, ob ich sie lieben oder fürchten soll.
Vorgestern habe ich also in diesem Club aufgelegt. Der Zufall will es, dass auch vorgestern die Zeit über Second Life geschrieben hat. Heute schreibt die Berliner Zeitung (Leider nicht mehr online verfügbar), vor ein paar Wochen der Spiegel und hier im Netz ist ohnehin alles voller zweitem Leben. Ohne gleich eine Debatte über die Qualität des deutschen Qualitätsjournalismus eröffnen zu wollen, ist die Ähnlichkeit der fraglichen Artikel schon beachtenswert. Das Unerhörte und deshalb Erwähnenswerte ist für diese Zeitungsartikel, dass man mit Second Life Geld verdienen kann. Die Zeit steckte ihren Artikel auch gleich passend in den Wirtschaftsteil und stellt die finanziell erfolgreiche Anshe Chung in der Weise vor, wie sonst neue Unternehmensspitzen vorgestellt werden. – Die Berliner Zeitung packt ihren Artikel dagegen ins Feuilleton und verspricht Interessantes: »Nirgends werden die Möglichkeiten und Probleme des Internets deutlicher als bei Second Life«. Tatsächlich verspricht der Artikel viel und hält nichts davon, denn …
… Peter Glaser reduziert in der Berliner Zeitung die Probleme des Internets, die bei Second Life deutlich werden, auf die des Urheberrechts.
Im Internet finden die Debatten über Kopierschutz meist zwischen Firmen aus der Unterhaltungsindustrie und den Konsumenten statt. In einer Welt, in der jeder mit ein paar Klicks zum digitalen Unternehmer werden kann, wird die Debatte nun zwischen Individuen geführt. »Ich finde es amüsant und lehrreich, wie Leute freimütig MP3-Dateien, Filme, Spiele und Software kopieren, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass sie jemandes Urheberrecht verletzen«, schreibt ein Besucher in seinem Blog. »Aber in Second Life lernen sie, was Piraterie bedeutet.«
Die Frage nach dem Urheberrecht und seiner Verletzung ist sicherlich nicht uninteressant, doch ich wage zu behaupten, dass gerade in Second Life etwas sichtbar wird, das nicht unbedingt ein Problem ist, sondern vor allem ein Phänomen, bei dem man nicht einmal sagen kann, ob es erfreulich faszinierend oder doch furchterregend ist.
Mit anderen Worten: Wo bleibt die Frage nach der Grenzverschiebung, die sich mit dem Netz allgemein und im Besonderen eben mit Second Life ergibt? Was ist mit der Frage, welchen Status Bekannte und Freunde aus einem virtuellen Raum haben. Freude über’s Wiedersehen, Verliebtheit, Hass und schmerzhafte Abschiede gehören zum Alltag der Bewohner solcher virtuellen Räume, wie sie zum Alltag der Realität in den Straßen auf Mutter Erde gehören. – Second Life bietet für diese Grenzverschiebung nichts prinzipiell Neues, nur die Qualität hat sich (wahrscheinlich gewaltig) geändert.
In diesen Rahmen gehört eben auch das Erlebnis, dass ich vorgestern als »echter« DJ in einem virtuellen Club hatte. Man sitzt an seinem Rechner, legt auf, freut oder ärgert sich über einen Übergang, überlegt, was als nächstes kommen soll und steht gleichzeitig mit seinem Avatar vor zwei Plattentellern in einem virtuellen Club. Und was man auch beim Auflegen macht, alle Besucher des Clubs hören es in Echtzeit. Dann passiert das Unfassbare: Da kommt jemand zu mir und fragt mich, was das für ein Lied ist? Die Freude über die Anerkennung durch den Anderen ist echt, so wie die Musik echt ist und so wie eben auch »in echt« jemand hinter diesem Avatar sitzt. Nachdenklich macht mich das ganze, als mir bewusst wird, dass ich in dem Moment der Freude über die Anerkennung nicht mit dem Menschen sondern dem Avatar gesprochen habe.
Über die Frage nach der Verschiebung der Grenze zwischen dem, was wir als Realität wahrnehmen und was nicht, über diese Frage spricht weder die Zeit, noch die Berliner Zeitung, überhaupt spricht über diese Frage kaum jemand – und das obwohl die radikale Neuerung nicht die Tatsache ist, dass da jemand mit virtuellen Grundstücken Geld verdient, sondern dass diese virtuellen Grundstücke als Raum wahrgenommen werden, in dem reales Leben stattfindet.
Virtuelle Interessenvertretung?
Tatsächlich wird von den Bewohnern Second Lifes schon lange viel differenzierter diskutiert. Im Multimedia-Blog werden Interviews mit anerkannten Second Life-Bewohnern veröffentlicht. In dem Interview mit »Property Resistance« antwortet dieser auf die Frage, was sein bislang größter Erfolg in Second Life gewesen sei: »Der größte Erfolg war die Organisation des Protestes zum Linden Lab-Geburtstag gegen die Öffnung der freien Accounts, der 1503-Protest. Wir haben eine politische Initiative gestartet um gegen das öffnen der Accounts , die Linden Lab im Mai, wenn ich mich recht erinnere durchgesetzt hat.«
Wie virtuell ist ein Raum, in dem Menschen politische Initiativen gründen, um ihre Interessen in diesem Raum zu verteidigen? Ist ein solcher Raum nicht schon längst ein Raum geworden, in dem reales Leben stattfindet? Wenn ja: Hat sich hier nicht schon längst die Grenze verschoben, die uns bisher immer sagte: Das ist Wirklichkeit und das nicht, das ist ein Traum gewesen, das ist nur ein Spiel, etc ..?
Virtueller Reichtum?
Der Aufhänger der Zeitungsartikel war die erste Dollar-Millionärin aus Second Life. Ich unterstellte zu Beginn, dass das Interessante nicht die Tatsache sei, dass man in und mit Second Life Geld verdienen kann, sondern eine durch Second Life deutlicher sichtbar werdende Grenzverschiebung zwischen »Echt« und »Unecht«. Mit dieser kleinen Änderung der Perspektive erscheint schließlich auch die Geldfrage noch einmal anders. Die Rückkopplung der »virtuellen« Welt an das »echte« Leben passiert in Second Life eben nicht nur noch über das quantitativ kaum erfassbare soziale Leben der Bewohner, sondern auch über eine Rückbindung an die »Realität« durch das Geld. (Sehr deutlich wird der Ernst, den Second Life hat, in der Untersuchung der Währungsschwankung des sog. Linden Dollars auf dem sehr lesenswerten Blog namens _notizen aus der provinz)
Und nun?
Wie lange Second Life in der bisherigen From existieren wird, ist völlig offen. Es ist unwahrscheinlich, dass LindenLab alleine die Zukunft des Webs gehören wird. Aber egal ob es dann Web 3.0, Web 4.0 oder Web XY heißen wird, in dem Kampf zwischen Microsofts Virtual Earth und Google Maps um die bessere Weltkarte, um den Kampf, wer diese Weltkarte zukünftig in besserem und schönerem 3D anbieten kann (hier ein direkter Kartenvergleich) zeichnet sich eine weitere Bewegung des Internets hin zu einem virtuellen dreidimensionalem Raum ab. Und in gar nicht so langer Zeit wird uns nicht die Frage beschäftigen, ob man in diesem Raum nun Geld verdienen kann oder nicht, denn das wird uns als selbstverständlich erscheinen. Die eigentliche Erschütterung unseres »realen« Lebens, so wage ich zu behaupten, wird sich eher in der Frage offenbaren, was denn nun »echt« ist, und was nicht.
Und wieso ist diese Frage, nach »echt« oder »unecht« so wichtig? Viele Antworten liegen zur Hand. Die für mich zur Zeit spannendste: Naja, wenn denn das Internet irgendwann »echt« ist, dann wird es wohl auch keine Internetsüchtigen mehr geben, denn das jemand süchtig nach der Realität sein kann, das wäre wirklich neu.
7 Kommentare
19:31 Uhr
Second Life ist so vielfältig, dass Alles was “VORSTELLBAR” ist, auch InWorld geht. Schade, dass ich deinen “Clubabend” verpaßt habe….
16:19 Uhr
…kann man sich da auch mit Aids infizieren, ungewollt schwanger werden, einem der Strom und Wasser abgestellt werden, an Krebs erkranken, gefeuert werden (okay, das geht wohl), zur Schule gehen müssen? Alles ist vorstellbar, was konsumiert oder selber herstellbar ist, aber die Logik des Zufalls und des Erleidens ist wohl kaum simulierbar.
08:27 Uhr
Ich wunder mich schon, warum ich in diesem Jahr noch nix von dir gehört habe ;-). Jetzt glaube ich hier den Grund gefunden zu haben.
09:48 Uhr
@Falko:
nee, nee ;) die Zeit, die ich in SecondLife bin hält sich in sehr engen Grenzen … Es sind so ein paar andere Dinge, die mich auf Trab halten …
@Bernd & Lars:
Tatsächlich ist es doch so, dass es eine Logik des Zufalls und des Erleidens zunächst auch durchaus in SecondLife vorstellbar ist — so wie der Zufall (und ein sogar als real empfundenes Leiden) bswp. jedem SimCity-Spieler noch vertraut sein müsste: Wenn die mühsam aufgebaute Stadt vom Erdbeben erschüttert und die eigene Infrastruktur zur Krisenbewältigung herausgefordert wird.
Das Problem hierbei und für allem in Hinblick auf Second Life und eine sich vielleicht mehr und mehr abzeichnende Verschiebung der Grenze zwischen als real und virtuell empfundener “Wirklichkeit” ist natürlich, dass bspw. eine Erkrankung des Avatars eben jene Identifikation zwischen real existierendem Menschen und Avatar wieder trennen würde. — Ich denke, dass alles “physische” zwischen virtueller und realer Welt immer getrennt bleiben wird, aber alles aus dem Bereich des sozialen Lebens und der sozialen Interaktion (und dazu gehört schon auch die Arbeitslosigkeit) früher oder später genau dieser genannten Grenzverschiebung zum Opfer fallen, zumindest aber von ihr berührt werden wird.
13:56 Uhr
Dnke für den freundlichen Link.
Aber gibt es denn sowas wie die Erkrankung des Körpers im Netz? Und ich wäre da hinsichtlich der Gleichsetzung von virtuellem und tatsächlichem Leid ebenfalls skeptisch.
14:12 Uhr
Ich würde sagen, dass das Netz sehr vieles ermöglicht, aber eben eine Sache nicht: Die Körperlichkeit (die wir aus unserem realen Leben kennen …)
So weit ein Leiden “nur” psychischer Natur ist, ist dies vermittelt über’s Netz m.E. durchaus möglich. Als Beispiel kann da vielleicht der Abschied eines guten Bekannten aus einer Online-Community dienen. Dass dieser nur aus dem Netz Bekannte, den man über viele Stunden Chat, etc. kennengelernt hat und Teil einer Gemeinschaft geworden ist, nicht mehr “da” sein soll, ist mit echtem Abschiedsschmerz verbunden.
Letztlich ist die Frage, was über’s Netz möglich ist und was nicht wahrscheinlich aber eine, die man sehr ausführlich bearbeiten könnte & müsste, zumal es zu der Problematik eigentlich schon sehr viel gibt. Zumindest dann, wenn man wie ich vermutet, dass das Problem im Grunde auf das in der Philosophie altbekannte Problem des Leib-Seele-Dualismus verweist.
18:37 Uhr
[…] das ist wirklich nix Neues und auch nix Inovatives. Das wurde ansatzweise sogar schon hier, in dieser kleinen Hinterwelt angedacht. In dem Papier Strukturelle Veränderungen in der Technischen Universität Berlin 1997/98 […]