Hinterwelt.net

17. March 2007
Angedacht

Und nach den ruhigen letzten Wochen war da plötzlich wieder das Jucken in den Fingern. Ein Lesen, das um jeden Preis versucht gegen den Strich zu lesen, das den Text überwörtlich nimmt und die Assoziationsreihen im Kopf in Gang setzt. Jetzt beginnt das, was man als Geistesübung einer sophistischen Tradition begreifen kann und Korinthenkackerei nennt. Der Zwang, vielleicht die Not, in den Gedankengang des unbekannten Gegenübers hinein zu grätschen, ihm ins Wort zu fallen, im Nachhinein, unentwegt und mit dem Wunsch am Ende nicht das Wort im Mund, sondern den Gedanken im Kopf verdreht zu haben. Unsympathisch solche Züge, aber manchmal eben auch reizvoll, wenn sie denn plötzlich da ist, die Diskussionswut über einen Kommentar zum Klima und der Rezeption seines Wandels, in brandeins, von Wolf Lotter, gefunden über die Bissigen-Liberalen.

Es macht (fast) immer was her, sich in die Tradition der Aufklärung zu stellen. Und wenn Wolf Lotter beim Klimaproblem den »Verlust des Denkvermögens« diagnostiziert, scheint es sich bei der Diskussion des Klimawandels um eine Antiaufklärung zu handeln, da die Maxime der Aufklärung nun mal das »Selbstdenken« ((vgl. I. Kant: »Was heißt: sich im Denken Orientieren?« S. 60. In: »Was ist Aufklärung?«, Hamburg: Meiner 1999.)) ist. Es macht immer was her, sich in eine Tradition zu stellen, sich große Fahnen an den Mast zu hängen und dann mit stolzgeschwelltem Bug über die Meere zu kreuzen. Nur ebenso verständlich ist’s hoffentlich auch, wenn ein eben solch aufgetakeltes Schiff am Horizont im Krähennest die Alarmglocke läuten lässt. Ja, hier hat jemand gedacht, wollte und hat auch radikal gedacht, nur Radikalität schützt vor Irrungen noch lange nicht. Herr Wolf, so möchte ich behaupten hat sich verirrt, nicht politisch und auch nicht moralisch, sondern rein argumentativ. Und da er mit Kant anscheinend nicht ganz unbekannt, stört’s ihn wohl hoffentlich auch nicht, wenn ich hier ein bisschen weiter aushole und seinen Gedankengang sezieren möchte.

Und dabei fängt doch alles so gut an: Gleich mit dem Verweis auf den vierten Bericht der Intergovernmental Panel on Climate Change. Klar, der Verweis auf die Quelle ist nicht nur immer gut, sondern vor allem immer angebracht, nicht nur, weil dann die Ausgangslage des Diskussionsgegenstandes klarer wird, sondern auch, weil die Quelle eben immer wahrer ist als das Zitat – und um Wahrheit wird es in Wolf Lotters Kommentar noch sehr entscheidend gehen. Wenn Herr Lotter mit Nachdruck auf die Abwägungen und Unsicherheiten in diesem Bericht hinweist, dann ist das auch nur legitim. Nur sollte man an dieser Stelle vielleicht auch darauf hinweisen, dass die Unsicherheit, ausgedrückt durch Wahrscheinlichkeiten, eben schon quasi analytisch im Wort der Prognose enthalten ist und auch niemand (von einigen Boulevardblättern und Ähnlichem mal abgesehen) als Tatsache verkauft, was doch ohnehin nur in der Zukunft liegen kann, nämlich: die Zukunft des Weltklimas.
Mir wäre es neu, dass die Zukunft heute als Tatsache verkauft wird. Und daran ändert auch der von Lotter diagnostizierte »Ablasshandel« nichts. …
[Regieanweisung: Pause von zwei Tagen, Zeilen gelöscht und Neu(wieder)anfang]

… So begann der Zorn. Zumindest möchte ich das im Nachhinein Zorn nennen, zwei Tage später. Zwei Tage später hat sich die Frage gewandelt. Die Sicherheit der Empörung ist dem Zweifel an der eignen Sicherheit gewichen. Und eigentlich, so sagt dieser Zweifel, ist das doch alles nicht so tragisch. Es ist doch verständlich, was Herr Lotter da sagen wollte. Die Geste des »mit ins Boot holens«, das fast fürsorgliche Verständnis, die Umarmung, die meint noch jeden Blödsinn verstehen zu können, ist aber nicht weniger unsympathisch als der Zorn. Vielleicht im Gegenteil: Vielleicht sollte ich dann doch lieber mit dem Zorn vorlieb nehmen, wenn ich mich entscheiden müsste, denn der, der scheint wenigstens auf den ersten Blick noch ehrlich. — Da ich mich aber nicht entscheiden muss, will ich lieber suchen nach dem Anstoß, den ich an Lotters Kommentar zum Weltklima und der Rezeption seiner Veränderung genommen habe.
Es sind nicht solche Sätze, wie diese:

Heinrich Miller, Professor am Alfred-Wegener-Institut und Mitwirkender am IPCC-Prozess, weiß, dass Klimaveränderungen zum Lauf der Welt gehören, auch für Menschen: »Die Völkerwanderung oder die Besiedlung Grönlands sind dafür Beispiele. Die Menschen haben sich immer angepasst.« Hier ist einer, wie übrigens weltweit viele Forscher, die man nur leider selten zitiert, optimistisch und konstruktiv.

Dieser Herr Miller scheint mir nicht sonderlich optimistisch, sondern eher zynisch. Denn selbstverständlich hat sich »der Mensch« immer angepasst. Das bezweifelt auch niemand und steht damit auch nicht in Frage. In Frage steht dagegen, um welchen Preis sich »der Mensch« angepasst hat. Und genau diesen Preis soll (und will) die Politik möglichst klein halten.
Was mich persönlich aber so verwundert und ein Stück weit auch empört hat, ist ein kleiner, fast nebensächlich erscheinender Satz:

Denn es geht nicht um Gut und Böse, Moral und Un-Moral. Es geht um Richtig oder Falsch.

Klar, es gibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts viele Menschen, die aufschreien, wenn jemand anderem das Wort »Wahrheit« nur auf den Lippen liegt. Aber das ist es nicht einmal, was mich so aufgeregt hat. Was mich aufgeregt hat, ist das Politikverständnis, das solchen Sätzen innewohnt und kurz darauf noch viel deutlicher zum Ausdruck kommt:

Nicht Fakten, sondern Meinungen bestimmen die Glaubenssätze. Ein Konsens. Das IPCC besteht aus vielen Forschern, mit recht unterschiedlicher Meinung und sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Frage, ob der Mensch mehr oder weniger am Klimawandel beteiligt ist. In Konsenskonferenzen, die man früher Konzile nannte, werden Mehrheiten für die eine oder andere Position gesucht. Die Meinung mit den meisten Stimmen ist dann die aktuelle »Wahrheit«.

Was ist der Raum und was der Gegenstand des Politischen, möchte ich Fragen. Um was geht es in der Politik? Es geht um Mehrheiten, und um Wählerstimmen geht es auch. Und das ist nicht erst seit dem 20. Jahrhundert so, sondern allem Anschein schon im antiken Athen. Auch wenn es im Politischen immer das Argument geben wird, das sich auf die Wahrheit beruft, wird es doch immer ein Gegenargument geben, das dies mit dem gleichen Anspruch tut. Es geht in der Politik tatsächlich nicht um »Fakten« (wohl austauschbar durch »Wissen«), sondern um Meinung. Es geht – überspitzt und mit einem anderen Vokabular gesagt – tatsächlich nicht um Erkenntnis, sondern um Meinung. Wer auf die Wahrheit als politisches Ziel setzt, der hat sich mit Platon in ein Boot gesetzt. Wer auf den einzig richtigen Weg hofft, der hat letztlich kein Interesse in der Politik, sondern will sie im Grunde abschaffen – wie auch schon Platon.

Herr Lotters Bedenken gegenüber der Rhetorik der politischen Rezeption des Klimawandels kann ich verstehen. Und er hat vielleicht auch Recht, wenn er die Neuerungen in der europäischen Umweltpolitik der letzten Wochen der Kritik unterziehen möchte. Aber er ist meines Erachtens mit seinem Schiff auf einem wahrscheinlich schon längst ausgestorbenen Riff aufgelaufen, wenn er im Namen einer Aufklärung dem Politischen seine ureigenste Aufgabe abspricht.

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