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23. January 2007
Fiktion

Wir fahren siebzig, den Altstadtring entlang, zur Isar, unter den Straßenlaternen, die beleuchtete Kirche vor uns liegend. Er sitzt vorne, ist über sechzig, hat mich nur beim Einsteigen kurz angesehen und fährt jetzt, mit dem Blick auf der Straße und den Gedanken irgendwo auf der Innenseite. Wie ich. Wir, er und ich, in einem neuen Benz. Er fährt ihn wie einen alten. Langsam in der Beschleunigung, hoch in der Endgeschwindigkeit gleiten wir über die Straßen, ihre Schwellen, unter den Straßenlaternen und den Ampeln der Kreuzungen hindurch. Nachtfahrt. Im Regen an der Isar entlang. Die kühle Fensterscheibe auf der Stirn. Ich bin betrunken, ein bisschen und will nicht nach Hause. »Können wir nochmal um den Altstadtring fahren?« Er nickt und biegt rechts ab, zum Goetheplatz.

Ein schöner Abend. Ein sehr schöner sogar. Sie ist schön, vielleicht deswegen. Warum sollte er sonst schön gewesen sein? Bier. Dann haben wir gegessen. Dann wieder Bier. Sie wollte einen Joint rauchen, ich nicht und wir haben einen Joint geraucht. Sie wollte tanzen gehen, ich nicht und wir sind tanzen gegangen. Sie wollte in die Registratur, ich nicht, ja, wir sind registrieren gegangen. Zwei Taxifahrten, sieben Bier und drei Joints später bin ich wieder im Taxi, wieder unterwegs, jetzt ohne sie. Sie wollte nach Hause, ich nicht. Sie ist gegangen, ich bin geblieben, habe noch ein Bier getrunken und mich erst dann in ein Taxi gesetzt. Der Geldbeutel war voll, jetzt ist er leer. Ich bin voll und fühle mich leer. Wir haben ein jämmerliches Bild abgegeben. Wie zwei Verliebte standen wir, ich mit dem Rücken zur Wand, sie vor mir, ein bisschen zu nahe. So standen wir, sahen uns an, prosteten uns zu, lächelten und manchmal lachten wir auch. Nur gesagt haben wir nichts. Klar, die Musik war eh zu laut. Stille. So ist das, wenn man sich nichts zu sagen hat, obwohl man sich ein Jahr lang nicht gesehen hat. Ein Verlegenheitsbier nach dem anderen. Und noch eins. Ein Falsches. Immerhin haben wir zusammen gelacht. Auch ohne Grund. Nach außen macht das keinen Unterschied. Ob gute Unterhaltung oder peinliches Verlegenheitslachen sieht aus der Entfernung gleich aus. Also haben wir gelacht und uns gut dabei gefühlt. Sie ist schön, wenn sie lacht. Ich nicht. Ich kann ein Lachen nicht vortäuschen, sonst wäre ich Schauspieler geworden, wie sie.

Hätte ich ein Mobiltelefon, dann würde es jetzt blinken oder in meiner Hose vibrieren. Sie hätte geschrieben: »Gute Nacht & Schöne Träume.« So sitzt sie zu Hause und denkt sich vielleicht: »Was für ein Scheißabend« und geht schlafen.

Der Mann von vorne: »Wir sind jetzt da. Ich bin dann doch nicht mehr um den Altstadtring gefahren. Sie sind eingeschlafen. – Das macht dann zwölf siebzig.«
Jetzt ist der Geldbeutel leer, das Konto auch und es ist noch nichtmal Mitte des Monats.
»Noch eine gute Nacht Ihnen.«
»Danke, Ihnen auch und erholen sie sich gut.«
Ich bin also fertig, steige aus, klopfe nochmal kurz aufs Dach, wie das Soldaten bei Panzern tun und gehe zur Haustür. Es regnet immer noch, der nasse Handrücken will nicht in die Hosentasche, dann habe ich den Schlüssel doch in der Hand und öffne die Türe, stiefel die Treppe nach oben und öffne die Wohnungstüre, schließe sie, gehe drei Schritte geradeaus, dann links, ins Bad, öffne den Gürtel, die Hosenknöpfe, ziehe die Hose nach unten, setzte mich auf die Klobrille, lasse den Schwanz in die Schüssel baumeln und schlafe ein.

5 Kommentare

  1. K.

    Fast schon ein Déjà Vu ist das ja. Oder müsste man sagen Déjà Lu, oder Deja Vécu? Egal – irgendwie kommt mir das Ganze bekannt vor…

  2. Oh – déjà vécu? Das macht mir Angst, wenn die Fiktion des Fiktiven beraubt wird. Andererseits: Wer sagt, dass das Erleben des Fiktiven nicht in der Fiktion möglich ist? Und – wer weiß – vielleicht ist es ja nicht nur im Kino so, dass die Fiktion die Realität bestätigt …

  3. K.

    Die Fiktion entspringt doch der Realität. Und auch wenn die Fiktion der Realität nicht gleicht, setzt sie sich doch aus ihr zusammen. Aus kleinen Dingen, Erlebnissen, Erinnerungen, Gesehenem, Gelesenem – vielleicht wieder Fiktion – usw.
    Und auch wenn Fiktives Erdachtes ist, bezieht sich doch jeder Gedanke auf die Realität – und ist auch selber Realität. Insofern liegt das alles gar nicht so weit auseinander…

  4. Mein aufrichtiger Respekt!

  5. @K.
    Nun, Du hast mich da vor ein Rätsel gestellt. Es erschien mir sehr klar; es erschien mir zu klar, denn in meinem Kopf blieb ein:

    »Nein, das kann einfach nicht sein, das darf nicht sein. Die Fiktion kann nicht einfach zur Realität werden, aber wieso ist …«

    Und auch wenn der Unterschied nur sehr klein sein mag, so ist er doch. Also meine Entgegnung:
    Die Fiktion entspringt dem Gedanken, nicht der Realität. Und diese Gedanken, klar, die haben ihr Futter in der Realität gefunden, auch wenn sie sich nicht immer aus ihr zusammensetzen müssen – oder doch? So und so bleibt es der Gedanke, der die Fiktion hervorbringt. Und weil der Gedanke recht großen Gestaltungsspielraum hat, wäre die Fiktion der Realität immer höchstens nur ähnlich. Gleichzeitig ist wäre es nicht mehr möglich von der Fiktion auf die Realität zu schließen, weil anhand der Fiktion nicht mehr nachvollzogen werden kann, was wie im Gedanken verändert wurde. Eine Überprüfung wäre wenn dann nur von der »Realität« her möglich. – Und weil der Zugriff auf diese Realität zum Glück nicht möglich ist, bleibt die Fiktion fast vollständig losgelöst von der Realität …

    … und schon liegt es wieder ein bisschen weiter auseinander ^^

    @Falko
    Sowas hört man immer gerne. Danke.

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