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12. May 2006
Film

Über den Film Tarnation

Nun, um eine lange Geschichte kurz zu machen: Verstört bin ich gerade nach Hause gekommen. Tarnation war das krasseste Kinoerlebnis, das ich in den vergangenen Jahren hatte. In einem Satz müsste man wohl sagen: Ein Dokumentarfilm gedreht (oder geschnitten) in Video-Clip-Ästhetik. Auch wenn es so was in der Kinogeschichte bisher wohl noch nicht gegeben hat, bringt dieser eine Satz “Tarnation” doch noch in keinster Weise auf den Punkt.

Also wird die Geschichte doch länger: Um kurz vor vier kam ich heute Nachmittag also ins Neue Arena. Der Kinobetreiber begrüßte mich nur mit den Worten: „Ah, immerhin einer, der kommt.“
Man könnte hier wohl auch eine Diskussion über die Rezeption von unbekannten Filmen/Regisseuren in der deutschen Filmkritik eröffnen … aber zurück zu diesem Kinoerlebniss: In den folgenden zwei Stunden saß ich alleine im Saal des Neuen Arenas und vergrub mich im Kinosessel und gab mich den Schauern und dem Schaudern hin. Die Geschichte des Films in einem Satz: Die Biographie des Regisseurs. Als er drei Jahre alt war, wurde seine Mutter vor seinen Augen vergewaltigt. Anschließend kam er ins Heim, sie in die Psychiatrie und wurde dort über Jahre hinweg mit Elektroschocktherapien behandelt. Er wurde in Pflegefamilien misshandelt und begann mit knapp zehn Jahren die ersten Aufnahmen von sich zu machen: Im Dunklen steht ein als Frau verkleideter Junge vor der Kamera und erzählt davon, dass er/sie schwanger ist und davon, dass der Ehemann sie in den Bauch getreten hat. Er/Sie bricht in Tränen aus, gibt sich der hysterischen Verzweiflung hin und … Moment des Unfassbaren … es folgen minutenlange Schnittfolgen aus höchstens halbsekündigen Bildfragmenten …

Bevor die Geschichte zu lange wird: Als Epileptiker sollte man sich diesen Film nicht ansehen, er geht, schon wegen der Reizüberflutung ans Eingemachte. Das Wunderbare an dem Film ist aber – so wie ich das sehe – nicht die Geschichte, die einen verstummen lässt, sondern die Nüchternheit, die Ferne jeglicher Sentimentalität, trotz dieser Biographie. Vielleicht könnte man auch sagen: Ein Psycho-Porno. Oder: Ein Grenzgang zwischen Psychographie und Anti-Psychiatrie. Ein Film, der inhaltlich tief geht, aber nicht Trauer, Stummheit oder gar schlechte Laune, sondern einen kurzen Moment der Leere hinterlässt …

Um noch einmal länger zu werden: Was macht “Tarnation” nun aus? Und gleich hinterher: Wer das jetzt, so wenige Stunden nach diesem Film schon sagen kann, der hat diesen Entwurf auf die Zukunft des Dokumentarfilms aus dem Jahr 2003 schon verstanden. Ich bin dagegen immer noch überwältigt. Zwei Ebenen scheinen mir im Augenblick das ‚Geheimnis’ von Tarnation auszumachen.
Zum einen ist das die Schilderung, die fast pornographische Darstellung der Seelen zweier Menschen. Zweier Menschen, die in keiner geringeren Verbindung als der zwischen Mutter und Sohn stehen. Zweier Menschen, die ihre Verzweiflung in dem je anderen spiegeln und auf diese Weise die Skepsis oder gar Feindschaft gegenüber der Psychiatrie und den vermeintlichen Seelengesetzen kaum prägnanter zum Ausdruck bringen könnten.
Die andere fantastische Seite des Films ist die Loslösung von den bekannten narrativen Techniken des Mediums Film. Die Geschichte wird nicht über die Bilder vorangetrieben, sondern über, dem Film selbst fremde, von außen hereinbrechende Schlagzeilen erzählt, die knapp und gerade deswegen in so großer Distanz den “Plot” dieser Biographien vorantreiben. Während so die Jahre am Zuschauer in nüchternen Zahlen vorüberblättern, ziehen sich die Bilder des Films in einen Bereich zurück, der in gängigen Filmen der Tonspur überlassen ist. Die Geschichte steht ohne Anteilnahme schwarz auf weiß auf der Leinwand. Die Details verbleiben der Bildmontage, die sich losgelöst von jeglicher Narrativik in einem Rausch entfalten, der sich seinen Weg direkt in die affektive Wahrnehmung des Zuschauers sucht. Es bleiben Bilder, die sich in das Gedächtnis einbrennen, nicht weil sie so schön und perfekt wären, sondern weil sich Jonathan Caouette der Technik des Blitzes bedient. Zwischen den Fluss der Zeit des bewegten Bildes montiert er erschütternde Gesichter, so kurz, dass man sich der unbewussten Wirkung des zwischengeschnittenen Bildes gerade noch bewusst wird.

So … und nun? Was passiert mit diesem Film. Ein einziger Besucher in der “Pressevorführung”. Mehr als drei Kopien wird es deutschlandweit wohl nicht geben. Die einen werden ihn in den Himmel loben, die anderen gnadenlos verreißen – ganz gewöhnlich bei Brüchen, die sich im Bekannten abzeichnen. Nur, eines wird bleiben: Wenig Zuschauer, fast keine Zuschauer. Weiter nicht tragisch kann man sagen, wo doch der Film in der Produktion gerade einmal 218 US-$ gekostest hat. Man könnte auch sagen: Mit dem Unangenehmen setzt man sich nicht gerne auseinander, also lasst uns über das Neue schweigen. Diese Unruhe wollen wir nicht; lasst uns beim Alten, beim Bewährten bleiben, denn hier – hier trifft das Kino auf seinen großen Feind: Die Zerstörung der Fiktion, die unsere Realität bestätigt.

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NACHTRAG: Nun, wenig Zuschauer sagte ich? Ich habe zuversichtlich übertrieben, sagen die Kinoprogramme. – In München läuft der Film nicht.

USA 2003
R,B,K,S,P: Jonathan Caouette
M: John Califra, Max Avery Lichtenstein, Stephin Merritt
88 Min, Arsenal ab 8.6.06

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