Hinterwelt.net

1. December 2005
Alltag

Heute Mittag, zwischen Rotkreuzplatz und Sendlinger Tor, in einem Wagen der Linie U1 saß ich an einem Fensterplatz, bei dem der kleine Mülleimer nicht mehr vorhanden war. (Mir ist der fehlende Mülleimer nur aufgefallen, weil ich mir mein Knie im Normalfall mindestens einmal pro Fahrt an dem kleinen eckigen Metallbehälter stoße.) Gegenüber saßen zwei Straßenkehrer auf dem Weg zu einer Betriebsversammlung. Sie sollen in Zukunft länger arbeiten, obwohl sie doch schon jetzt, während der kalten Jahreszeit draußen im Dunklen unterwegs sind. Eine Stunde pro Woche mehr, was ist das schon, könnte man fragen. Man könnte aber auch sagen: Jedes Jahr eine Stunde mehr macht in zehn Jahren zehn Stunden mehr.

Während ich den beiden in ihrer neonorangefarbenen Kleidung lauschte, fuhr der Zug in den Bahnhof am Sendlinger Tor ein. Gerade als ich aufgestanden war, wollte der eine der beiden Straßenkehrer das Papier wegwerfen, in das sein Brot eingepackt war. »Wieso ist denn hier kein Mülleimer mehr?« »Die schrauben jetzt alle Mülleimer aus den U-Bahnen raus, wegen der WM.« Und tatsächlich, was mir zuvor nur beiläufig aufgefallen war entpuppte sich als ‘von oben angeordnete Veränderung’. Auch im Nebenabteil, ja, im ganzen Wagen waren die Mülleimer abgeschraubt.

Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Ich hetzte die Treppe hoch, schnell zum anderen Bahnsteig, hineinin die U3. Und der Zug fährt los. Hier, in diesem Wagen waren sie noch, die Mülleimer. Dieser Zug ist ganz offensichtlich noch nicht WM-tauglich. Mülleimer: Das zu Hause der Ausscheidungen unserer Gesellschaft, auch des Terrorismus. Muss ich Angst haben, vor den Mülleimern? Ist dieser Zug weniger sicher als der WM-taugliche?

»Der Terror trift auch uns« titelt die heutige ZEIT. Sie bezieht sich auf die Entführung, und ich beziehe mich auf Mülleimer. Bei wem fährt die Angst mit? Die Angst vor ‘irgendwie eigenartigen’ Rucksäcken, vor einem Menschen, der nicht dick ist, in seinem langen Mantel aber dick aussieht und auch die Angst vor den kleinen eckigen Mülleimern, an den man sich das Knie stößt? Bei wem fährt diese Angst mit, zumindest manchmal, für einen Augenblick?

Natürlich, es ist sehr unwahrscheinlich, dass der nächste Anschlag gerade München trifft, dieses verschlafene Millionendorf. Und noch unwahrscheinlicher ist es natürlich, dass ausgerechnet ich in der getroffenen U-Bahn mit dem betroffenen Mülleimerchen sitze. Aber: Wie viele Menschen spielen Lotto und sind vor jeder Auslosung aufs Neue gespannt? Egal, wie unwahrscheinlich ein Gewinn auch ist. Sollte man nicht angespannt sein, wenn man in eine WM-untaugliche U-Bahn mit Mülleimern steigt? Fährt die Angst nicht eigentlich schon lange mit?

»Du bist paranoid!« Das werden sie mir zurufen, zu Recht. Und doch frage ich mich, wenn ich sie denn nicht kenne, wenn sie nicht mitfährt, die Angst, kann ich dann wirklich behaupten, der Terrorismus beeinflusst mich nicht? Was ist, wenn ich nur ein durchweichtes Taschentuch oder eine Bananenschale loswerden möchte und das Pech habe in einer WM-tauglichen U-Bahn ohne Mülleimern zu sitzen? Hat dann der Terrorismus nicht schon längst eine Spur in meinem Alltag hinterlassen?

Die Angst fährt mit, nicht nur zur WM. Es ist eine Angst, die sich vom beruflich bedingt paranoiden Sicherheitspolitiker bis zu dem Aufbewahrungsort der Ausscheidungen unserer Gesellschaft durcharbeitet. Und wenn sie dort angekommen ist, wer kann dann noch sagen, dass sie nicht mitfährt, die Angst.

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